Auch ich habe einmal geglaubt, Gesundheit sei etwas, das man entweder hat oder nicht. Solange alles funktioniert, denkt man nicht darüber nach. Man lebt, arbeitet, reist, verschiebt Grenzen und tut absolut widersinnige Dinge. Erst wenn der Körper nicht mehr mitmacht, beginnt man zu fragen: Was habe ich falsch gemacht?
Mit 20 habe ich mich für unsterblich gehalten. Mit 30 habe ich noch geraucht, wog gut 10 Kilo mehr als heute und konnte keine 4 Stockwerke hochlaufen, ohne ins Schnaufen zu geraten. Damals habe ich mich gefragt, wie ich mich mit 60 fühlen würde, wenn ich so weiter mache. Ich konnte es mir am Beispiel meines Vaters vor Augen führen. Auch er war, bis zuletzt, nie wirklich krank. Doch er war die letzten 25 Jahre seines Lebens von Schmerzen geplagt.
Folge eines Lebens mit zu viel Essen und eklatant zu wenig Bewegung. Muss ich erwähnen, dass er letztlich nach mehreren Schlaganfällen gestorben ist?
Gesundheit muss gepflegt werden
Seither sehe ich Gesundheit nicht mehr als Zustand. Ich betrachte sie als Verhältnis zu mir selbst. Gesundheit ist ein dauerhaftes Aushandeln zwischen meinem Körper und dem, was ich ihm zumuten will. Dieses Verhältnis ist nicht stabil, nicht planbar und schon gar nicht dauerhaft „optimal“. Es verhält sich eher wie ein Bankkonto. Wer nur abhebt, ohne einzuzahlen und danach überzieht, ist irgendwann pleite.
Geld lässt sich jederzeit ersetzen, mein Körper nicht. Deswegen hat mein Körper Vorrang – immer, ausnahmslos!
Vieles, was gesellschaftlich als normal gilt, ist für den Körper schlicht eine Dauerbelastung. Zu wenig Schlaf. Reizüberflutung. Zu wenig Bewegung. Zu viel Stress, der als Produktivität getarnt wird. Auch ich habe das einmal für Stärke gehalten. In den Achtzigern galt Leistungsfähigkeit alles. schlechte Ernährung und 120-Stunden-Arbeitswochen galten als Statussymbol. Heute weiß ich: Das war Ignoranz.
Ich vermeide es, Leistungsfähigkeit mit Gesundheit zu verwechseln. Nur weil ich etwas tun kann, heißt das nicht, dass es mir guttut. Der Körper kompensiert erstaunlich lange. Er ist geduldig. Er macht mit, auch wenn man ihn übergeht. Doch seine Geduld ist endlich. Und sie endet selten mit einem spektakulären Crash, sondern schleichend, über Jahrzehnte.
Ich vermeide auch die Vorstellung, man könne Gesundheit objektiv messen. Ich gehe praktisch nie zum Arzt. Blutwerte, Marker, Scores – all das hat seinen Platz. Doch ich habe erlebt, wie Menschen mit perfekten Werten innerlich ausgebrannt waren. Und andere mit mäßigen Werten erstaunlich stabil durchs Leben gingen. Messungen sind Momentaufnahmen und werden erst dann wirklich notwendig, wenn die ersten Alarmsignale auftauchen.
Eine simple Regel:
Ein alter Internist hat das mal so formuliert:
„So lange du mit Appetit essen kannst, danach nicht kotzen musst, Darm und Blase regelmäßig entleeren kannst und fünf Kilometer in weniger als einer Stunde zu Fuß gehen kannst, ist alles im grünen Bereich“.
Deshalb verlasse ich mich nicht mehr ausschließlich auf Zahlen. Ich achte auf Signale. Müdigkeit. Unruhe. Spannung. Schlafqualität. Hunger. Konzentration. Das sind keine esoterischen Kategorien, sondern biologische Rückmeldungen. Ich habe ich sie nie übergangen, weil sie gerade „nicht passten“. Denn: Ignorierte Signale verschwinden nicht – sie werden lauter.
Was ich ebenfalls vermeide, ist dieser moderne Zwang, alles richtig machen zu wollen. Richtig essen. Richtig trainieren. Richtig schlafen. Richtig altern. Dieser Optimierungsdrang erzeugt mehr Stress, als er verhindert. Gesundheit entsteht nicht durch Perfektion, sondern durch das Weglassen dauerhafter Fehler.
Ich vermeide Diäten, die mir erklären wollen, dass mein Körper ein Problem ist. Ich vermeide Ernährungsreligionen, die einfache Dinge kompliziert machen. Mein Körper funktioniert seit Jahrzehnten nach denselben biologischen Prinzipien. Er braucht Nahrung, keine Konzepte. Verträglichkeit, keine Ideologie. Ruhe, keine Selbstbestrafung.
Nein, es wird leider nicht besser
Mit zunehmendem Alter vermeide ich vor allem eines: Überforderung aus Gewohnheit. Was mit dreißig noch ging, muss mit sechzig nicht mehr sinnvoll sein. Nicht, weil ich schwächer geworden bin, sondern weil meine Reserve kleiner ist. Jede Überforderung verlangt nach einer Ruhephase – und die fallen mit zunehmendem Alter immer länger aus. Das ist kein Verlust, sondern Realität. Wer sie akzeptiert, lebt entspannter. Wer sie ignoriert, zahlt später.
Ich vermeide auch den Gedanken, Gesundheit ließe sich delegieren. Kein Arzt, keine Vorsorgeuntersuchung, kein Medikament kann kompensieren, was ich täglich gegen mich selbst tue. Medizin ist wichtig, manchmal lebensrettend – aber sie ersetzt keine Lebensführung. Gesundheit ist nichts, was man outsourcen kann.
Als chronisch unehrgeiziger Mensch kenne ich auch keine Schuldgefühle. Weder beim Essen noch beim Nichtstun. Genuss ist für mich kein Feind der Gesundheit. Im Gegenteil. Essen in Ruhe, Bewegung ohne Zwang, Schlaf ohne Rechtfertigung – all das wirkt anders auf den Körper als dieselben Dinge unter Stress. Der Körper reagiert nicht nur auf das Was, sondern auf das Wie.
Ich vermeide es, meinen Körper als Gegner zu sehen. Oder als Projekt. Oder als Maschine, die man optimieren muss. Er ist ein Partner. Einer mit Eigenheiten, Grenzen und einer klaren Sprache. Wer versucht, ihn zu beherrschen, verliert. Wer lernt, ihm zuzuhören, gewinnt Zeit.
Ich habe gelernt, dass viele Krankheiten keine Ereignisse sind, sondern Prozesse. Sie entstehen über Jahre. Und ebenso unspektakulär hätte man oft gegensteuern können. Nicht mit radikalen Einschnitten, sondern mit kleinen Korrekturen. Mehr Schlaf. Weniger Tempo. Regelmäßige Bewegung. Pausen ohne Begründung.
Sei achtsam mit dir selbst
Ich vermeide die Illusion von Kontrolle. Gesundheit ist nicht planbar. Altern schon gar nicht. Doch ich kann die Richtung beeinflussen. Nicht durch Zwang, sondern durch Aufmerksamkeit. Durch das ehrliche Beobachten: Was stärkt mich? Was schwächt mich? Diese Antworten ändern sich. Und genau das macht sie wertvoll.
Ich habe Menschen gesehen, die alles „richtig“ gemacht haben und dennoch krank wurden. Und andere, die nie nach Regeln lebten und erstaunlich vital blieben. Der Unterschied lag selten in der Moral. Fast immer im Maß. Maßhalten ist keine Tugend aus Lehrbüchern. Es ist eine Fähigkeit, die man durch konsequente Selbstbeobachtung lernt. Wer bewusst lebt, kann die Signale wahrnehmen, wer sich mit Lärm und nutzloser Information zudröhnt, ist dafür taub.
Für mich bedeutet Gesundheit heute nicht, alles im Griff zu haben. Sie bedeutet, mit meinem Körper im Reinen zu sein. Auch dann, wenn er mal nicht perfekt funktioniert. Besonders dann!
Gesundheit ist für mich kein Ziel. Sie ist das Nebenprodukt eines Lebens, das nicht permanent gegen sich selbst geführt wird. Und das ist mehr, als ich früher für möglich gehalten hätte.